
Körperliche Reaktionen
zum Zeitpunkt des ursprünglichen Ereignisses
Was passiert eigentlich in unserem Körper, wenn wir ein potentiell traumatisierendes Ereignis (sei es ein einmaliges Ereignis wie z.B. einen Unfall oder ein wiederholtes Erleben wie z.B. bei einer andauernden Vernachlässigung) erleben?
Auf einer rein körperlichen Ebene rufen solche Ereignisse „autonome Sicherungsmechanismen“ hervor, die sehr anschaulich anhand der von Stephen Porges begründeten Polyvagaltheorie beschrieben werden können. Autonom deshalb, weil diese Reaktionen zunächst ohne Einbeziehung unseres Verstandes (des sog. NEO-Kortex) erfolgen und nachweisbar nur aus dem Mittelhirn (auch Limbisches System genannt) und dem Stammhirn (auch Reptilienhirn bezeichnet) erfolgen: Sie sind damit im wahrsten Sinne des Wortes schneller, als wir denken können.
Kampf-/Flucht-Modus
Unser Körper aktiviert bei einer drohenden Gefahr in einer ersten Stufe nahezu alle uns zur Verfügung stehende Energie, damit wir uns auf das drohende Ereignis einstellen können: Die Muskeln spannen sich an; der Blutdruck steigt; wir fokussieren uns auf das Ereignis und blenden andere unwichtige Dinge aus; die Atmung wird flacher – wir halten teilweise im wahrsten Sinne des Wortes den Atem an; die Verdauung wird eingestellt (und teilweise vorher noch entleert).
In Bruchteilen von Sekunden entscheidet unser Körper, ob es sich lohnt, mit der bestehenden Gefahrenquelle zu kämpfen oder ob wir die aktivierte Energie dazu nutzen, um zu fliehen.
Erstarrung / Freeze-Modus
Dauert dieser Kampf-/Fluchtmodus zu lange oder wird die Gefahr als extrem eingestuft, so dass weder Kampf noch Flucht als erfolgreich angesehen werden, schaltet unser Körper in der Regel in eine zweite Stufe des Schutzmechanismus: Die im Kampf-/Fluchtmodus aktivierte Energie wird „eingefroren“ (Erstarrung/Freeze-Modus). In positiver Hinsicht werden hier nahezu alle wichtigen körperlichen Funktionen und Empfindungen für eine gewisse Zeit abgeschaltet, um die Gefahr nicht mehr spüren zu müssen.
Der Blutdruck sinkt ab bis hin zur völligen Ohnmacht; Arme und Beine erschlaffen; das Schmerzempfinden lässt nach bzw. schaltet ebenso ab; die Atmung ist kaum mehr wahrnehmbar; die kognitive Verarbeitung der Situation ist außer Kraft gesetzt, ebenso wie die (kognitive!) Speicherung des Erlebnisses.
Unser Körper erspart uns hier im wahrsten Sinne des Wortes das Erleben der gegenwärtigen – potentiell traumatisierenden – (Todes-)Gefahr!
Ganz so wie beim „Katz & Maus – Spiel“: Die Maus, die im Maul der Katze hängt ist in dem Moment völlig leblos um auf diese Art und Weise das drohende Gefressen-Werden nicht zu spüren bzw. keinen weiteren Jagd-Anreiz für die Katze zu bieten und dadurch noch eine letzte Chance auf das eigene Überleben zu wahren.
Körperliche Reaktion als Schutzmodus
Beide Zustände (Kampf-/Flucht- wie auch Freeze-Modus) sind ganz normale körperliche Schutzmechanismen, deren Zweck es ist, unser Überleben zu sichern!
Im Verlauf eines „normalen biologischen Stress-Zyklus“ lösen sich diese Zustände nach der Überwindung des Ereignisses wieder auf und der Körper kehrt zurück in einen (mehr oder weniger) entspannten Ausgangszustand (von Porges als „Social Engagement System“ bezeichnet). Voraussetzung ist allerdings, dass der Körper in einem als sicher empfundenen Umfeld genügend Zeit hat, die durch das potentiell traumatisierende Erlebnis aufgebaute Energie wieder abzubauen.
Ganz wichtig ist dabei die Funktion des „Zitterns“ (Wir zittern z.B. in der Regel nachdem der Stress bei einem Unfall nachlässt), durch die der Körper diese aktivierte Energie wieder loslässt. Ist die Energie aus dem Körper gewichen, kann das bisherige Leben wieder aufgenommen werden und es wird zu keiner nachhaltigen Traumatisierung kommen.
Traumatisierung als Folge nicht abgebauter Erregungsenergie
Rein biologisch betrachtet entsteht vor diesem hier dargestellten Verständnis eine Traumatisierung dann, wenn im Körper die durch das Ereignis aktivierte Energie nicht (vollständig) abgebaut werden kann oder wenn durch wiederholte Ereignisse immer noch mehr Energie aktiviert wird, die ebenfalls nicht abgebaut werden kann. Die Energie wird in diesem Falle im Körper „eingelagert“ (man spricht hier von „embodiment“) und führt dadurch zu den vielfach beschriebenen körperlichen, psychischen und sozialen Folgen einer Traumatisierung.
Je mehr Energie dabei im Körper verbleibt, desto höher ist das Risiko einer Traumatisierung!
Eine Traumatisierung kann damit aus der hier vertretenen Sicht nicht nur aus dem Freeze-Modus heraus entstehen (was dem nach hergebrachter Meinung erforderlichen sehr intensivem Erleben bis hin zur Todesgefahr beim traumatisierenden Ereignis entspricht); vielmehr kann auch ein kontinuierlich bestehender Kampf-/Fluchtmodus zur Traumatisierung führen, wenn diese aktivierte Energie nicht abgebaut, sondern im Gegenteil mehr und mehr aufgebaut wird.
Diese Herangehensweise bezeichne ich – im Gegensatz zum vorherrschenden psycho-somatischen Paradigma – als somato-psychisch: Der Körper „dominiert“ den Prozess der Traumatisierung – psychische, soziale und weitere gesundheitliche Einschränkungen sind die Folge.
Literatur:
(1) Levine, Peter A.: Sprache ohne Worte.
(2) Porges, Stephen W.: Heilen mit der Polyvagal-Theorie. Neuronales Training für Körper, Herz und Hirn.
(3) Porges, Stephen W.: Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie.
(4) Porges, Stephen W.: Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit.
(5) Van der Kolk, Bessel: Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann.